Verleugnung, Verzerrung, Verwirrung: Die Ära der Post-Wahrheit
Was gestern noch als „gültige Wahrheit“ galt, kann heute schon falsch sein; was gestern als „Verschwörung“ abgetan wurde, kann heute Fakt sein.
Der Ökonom und Medienanalyst Edward S. Herman, der gemeinsam mit Noam Chomsky das wegweisende Werk Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media verfasste, äußerte sich einmal folgendermaßen zur postmodernen Situation der Wahrheitsfindung: „Convenient mythologies require neither evidence nor logic.“ Auf gut Deutsch: Bequeme Mythen brauchen weder Beweise noch Logik. Ein geschickt aufgebauter Mythos, also ein Narrativ, entwickelt – besonders mit Hilfe von Medienpropaganda und politischem Impuls – sukzessive ein Eigenleben, das bald ohne jegliche Rücksicht auf die objektive Realität als totale Wahrheit anerkannt wird. Widersprüchlichkeiten mit der Realität werden weggeleugnet, sie werden verzerrt und zurechtgebogen, oder werden einfach gar nicht geklärt. Wahrheit wird damit modifizierbar, sie kann an unsere eigenen Vorstellungen angepasst werden und wird zur gefühlten Wahrheit.
Wenn jedoch jeder die Wahrheit für sich beanspruchen kann, wird jeglicher Wahrheitsanspruch zunichte gemacht. In unserem postmodernen Zeitalter der Fake News und alternativen Fakten, Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen ist die Wahrheitsfindung zur Herkulesaufgabe geworden. Nicht einmal Foucault und die Poststrukturalisten hätten sich den Wahrheitspluralismus erträumen können, mit dem wir heute konfrontiert werden. Was gestern noch als „gültige Wahrheit“ galt, kann heute schon falsch sein; was gestern als „Verschwörung“ abgetan wurde, kann heute Fakt sein.
Je mehr man sich in der Medienlandschaft umsieht, desto mehr wird man sich der kognitiven Dissonanz bewusst, derer man fähig sein muss, um das Orwellsche „Doppeldenk“ zu begreifen. Widersprüche sind zur Alltäglichkeit geworden, Wahrheit zur Illusion. Widmen wir uns drei aktuellen Beispielen, die dies in aller Deutlichkeit zeigen sollen.
Frau Baerbock und ihre Wähler
Am 31. August 2022, im Rahmen der 26. Forum 2000 Conference in Prag, nahm die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock an einem Ukraine-Panel teil, bei dem sie eine Aussage tätigte, der für heftige Kritik sorgte. Die Außenministerin verkündete: „Wenn ich dieses Versprechen an die Ukrainer gebe: ‘Wir stehen so lange an eurer Seite, wie ihr uns braucht’, dann möchte ich auch liefern, egal was meine deutschen Wähler denken, aber ich möchte für die ukrainische Bevölkerung liefern.”1 Ein Videozusammenschnitt ihrer Aussagen machte rasant die Runde auf Twitter, die Hashtags #Baerbock, #Hochverrat und #BaerbockRuecktritt trendeten in den folgenden Tagen an erster Stelle. Die allgemeine Entrüstung war groß. Dann aber, zwei Tage später, hieß es laut des ARD-Faktenfinders plötzlich, die Hashtags und Videos seien wohl einer „pro-russischen Kampagne“ entsprungen und seien „aus dem Zusammenhang“ gerissen worden: „Schaut man sich den Auftritt Baerbocks in Gänze an, wird klar, dass ihr Statement nicht so gemeint gewesen ist,“ so der Faktenfinder.
Moment mal.
„Nicht so gemeint gewesen ist?“ Darüber lässt sich streiten. In der offiziellen, ungekürzten Videoaufnahme des Panels, hochgeladen vom offiziellen YouTube-Kanal des Veranstalters, kann man sich Frau Baerbocks Aussagen in aller Länge und Ausführlichkeit nochmals ansehen. Der Zusammenhang ist klar und deutlich, darüber können auch die hanebüchenen Versuche des BR-Faktenfuchses, der Außenministerin aus der Patsche zu helfen („Baerbock-Zitat verfälscht und instrumentalisiert“) nicht hinwegtäuschen. Dass die Öffentlich-Rechtlichen in ihrer Rolle des Staatsfunks Frau Baerbock an die Seite springen, anstatt ihre fragwürdigen Aussagen (ich wiederhole: „egal, was meine deutschen Wähler denken“) zu kritisieren, verwundert niemanden mehr. Die Verleugnung einer faktischen Realität, welche jeder in der Videoaufnahme sehen und hören kann, ist dennoch selbst für den ÖRR ein neues Level des Doppeldenk. Merke: Die Ministerin hat zwar etwas gesagt, hat es aber nicht so gemeint.
Wie definiert man eine Frau?
Am 22. März 2022, im Rahmen ihrer Nominierung auf einen Platz am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten (welchen sie später erhalten würde), stellte sich Richterin Ketanji Brown Jackson den Fragen der republikanischen US-Senatorin Marsha Blackburn. Unter anderem bat die Senatorin um die Definition des Begriffs „Frau“. Richterin Jackson erwiderte, dass sie „keine Biologin“ sei und diese Frage dementsprechend nicht beantworten könne.
Am 12. Juli 2022, in einer Sitzung des Justizausschusses des Senats zum Thema Abtreibung, geriet der republikanische US-Senator Josh Hawley mit der Jura-Professorin Khiara M. Bridges anlässlich einer ähnlichen Definitionsproblematik aneinander. Senator Hawley fragte Professor Bridges, ob sie mit dem Ausdruck „Personen mit der Fähigkeit zur Schwangerschaft“ („people with a capacity for pregnancy“) denn Frauen meine. Bridges entgegnete: „Viele Frauen, Cis-Frauen, haben die Fähigkeit zur Schwangerschaft. Viele Cis-Frauen haben nicht die Fähigkeit zur Schwangerschaft. Es gibt auch Transmänner, die zur Schwangerschaft fähig sind, sowie viele non-binäre Menschen, die zur Schwangerschaft fähig sind.”2 Im Verlauf des bizarren Gesprächs verlor Bridges schließlich die Fassung, als Hawley behauptete, dass Männer nicht schwanger werden können.
Einen Tag später, am 13. Juli 2022, ereignete sich bei einer Anhörung der Aufsichtskommission des US-Repräsentantenhauses im Falle Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization eine ähnliche Szene. Der Abgeordnete Andrew Clyde fragte die Vorsitzende des National Women’s Law Center, Fatima Goss Graves, nach der Definition einer „Frau“. Auch Frau Goss war es nicht möglich, eine Frau zu definieren; sie konnte lediglich zum Ausdruck bringen, dass sie selbst sich als Frau „identifiziere“.
Wir halten also fest: einer Obersten Richterin, einer Juraprofessorin und der Vorsitzenden einer NGO, die sich für Frauenrechte einsetzt, ist es nicht einwandfrei möglich, eine Frau zu definieren. Während Brown zumindest den Aspekt der Biologie erwähnt und damit immerhin andeutet, dass die Definition einer Frau an eine biologische Realität gekoppelt ist, fahren Bridges und Goss direkt die schweren Geschütze der Gender-Ideologie auf, die behauptet, dass ein jeder eine Frau sei, der sich als solche fühlt.
Die gleichzeitigen Behauptungen der Gender-Ideologie stellen die persönliche Kognition durchaus vor eine Herausforderung: Zunächst einmal werde das Geschlecht bei Geburt vom Arzt ohne Rücksicht auf die Gender-Identität des Babys „zugeteilt“. Die biologische Realität des Geschlechts in seiner Dualität weiblich/männlich gebe es nicht. Trotzdem kann man sich aber einer „geschlechtsangleichenden Operation“ unterziehen und sich zur Frau oder zum Mann umoperieren lassen. Eine Definition von Frau oder Mann kann man aber nicht geben, da das eigene Gefühl dafür ausschlaggebend ist. Dementsprechend kann jeder eine Frau sein. Es gilt: Transfrauen sind Frauen, aber Transfrauen sind keine Transfrauen, denn das zu sagen, ist transphob. Die Verstrickung der Widersprüche und Leugnung der objektiven Realität sind absolut bemerkenswert. Das ist Doppeldenk in Reinform. Merke: Es zählt, wie man sich fühlt und nicht, was man de facto ist.
Von Werkzeugkästen und Winterreifen
Am 8. September 2022 verabschiedete der Deutsche Bundestag das neue Infektionsschutzgesetz, das neben einer umfassenden Maskenpflicht (im ÖPNV, Schulen, und sonstigen Innenräumen, nicht aber in Flugzeugen) auch Demonstrationsverbote und Schulschließungen ermöglicht. Diese massiven Grundrechtseinschränkungen wurden von der Regierung damit begründet, dass man mithilfe dieses rechtlichen „Werkzeugkastens“ bzw. der „Winterreifen“ gut vorbereitet in den nächsten Corona-Winter starten wolle. Eine Rechtsmaßnahme, die im europäischen Ausland ihresgleichen sucht: Selbst der Bayerische Rundfunk berichtete, dass die Pandemie von Spanien über die Schweiz bis nach Schweden ein „untergeordnetes Thema“ ist und es dort fast keine Vorgaben, geschweige denn Grundrechtseinschränkungen gibt.
An dieser Stelle mag der kritische Denker bereits kurz innehalten: Verhält sich demnach also das Coronavirus über die Ländergrenzen hinweg anders? Sind die Deutschen anfälliger für das Virus als etwa die Franzosen? Doch Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung in Sachen Corona sind wahrlich nichts Neues. Kaum ein Thema der letzten zweieinhalb Jahre exemplifizierte Orwells Doppeldenk so perfekt. Komplett widersprüchliche Aussagen, ständig wechselnde Vorschriften und realitätsverleugnende Maßnahmen schraubten die Verwirrungsspirale immer weiter nach oben, indem sie jegliche Logik aushöhlten.
Abermillionen von Menschen sollten an Corona sterben, was nicht der Fall war. Die Impfung schütze vor Ansteckung, dann doch nicht. Die Impfung verhindere einen schweren Verlauf, dann doch nicht. Die Impfung sei absolut sicher, dann doch nicht. Herdenimmunität könne ab einer bestimmten Impfquote erreicht werden, was dann doch nicht so war. Die Maske schütze vor Ansteckung, dann aber doch nicht. Ivermectin helfe nicht gegen Covid, dann plötzlich doch. Die Impfpflicht werde nie kommen, kam aber in Form einer (vorerst) einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Man werde die Menschen nicht in ein Impfabo drängen, tat man aber doch. Der neue Omikron-Booster wird vom CDC, dem RKI und Konsorten wärmstens empfohlen, wurde aber nur an acht Mäusen getestet… die Liste könnte endlos weitergeführt werden.
Wenn die Covid-Krise eines gezeigt hat, dann, dass Wahrheitsfindung schier unmöglich geworden ist. Im Dschungel der Widersprüche stößt ein jeder an seine kognitiven Grenzen, weiß nicht mehr, was er nun glauben soll und was nicht. Der Ermüdungseffekt der Verwirrung führt schließlich die große Mehrheit dazu, sich aus Bequemlichkeit und Anpassung oder Verzweiflung und Kapitulation für diejenige Wahrheit zu entscheiden, mit der sie sich selbst am wohlsten fühlt. Und hört irgendwann auf, zu hinterfragen. Merke: Je höher Verwirrung und Informationsflut, desto leichter ist die „Wahrheit“ von oben zu kontrollieren.
Übrigens: Weniger als eine halbe Stunde nach der Verabschiedung des neuen Infektionsschutzgesetzes im Bundestag veröffentlichte das ZDF einen Artikel mit dem Titel: „Deutschland: Fast alle haben Covid-Antikörper“. In der zitierten Studie heißt es, dass „in den meisten Altersgruppen bei einer Mehrheit der Menschen vermutlich ein moderater bis hoher Schutz (für die aktuell in Deutschland dominierende SARS-CoV-2-Variante) gegen einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung besteht.“
Quod erat demonstrandum.
„Die Wahrheit aber kommt immer zuletzt“
Verleugnung, Verzerrung, Verwirrung: In der Ära der Post-Wahrheit ist es nicht nur unwahrscheinlich schwer geworden, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, es herrscht ein Wahrheitspluralismus, der an den Fundamenten unserer Realität rüttelt. Was vor wenigen Jahren noch als unumstößlich galt – beispielsweise die Definition einer Frau als „erwachsene Person weiblichen Geschlechts“ oder die Definition einer Impfung als die „Injektion eines toten oder abgeschwächten infektiösen Organismus, um einer Krankheit vorzubeugen“ –, steht nun, wie so vieles, auf dem Spiel. „Derjenige, der Information entdeckt, formt und verteilt, hat eine enorme Macht. Die Währung in unserem postmodernen Wissensregime ist Sprache, Fakt, Bild und Emotion“, so Autor Christopher Rufo. „Das Spiel dreht sich darum, zu lernen, wie man damit umgeht.“3
Wie geht man nun also damit um? Die kognitive Müdigkeit des Bürgers muss wieder zurückgeführt werden zur Mündigkeit. Nur der mündige, hinterfragende, kritische Geist kann in dieser postfaktischen Welt überleben und in Freiheit leben. Die Suche nach Wahrheit mag kein einfaches Unterfangen sein, aber es ist ein nötiges, heute mehr denn je. Und so sollen zum Schluss die ermunternden Worte des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián aus seinem Orakel der Weltklugheit zitiert werden4, der schon im 17. Jahrhundert schrieb: „In Allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit: die Wahrheit aber kommt immer zuletzt, langsam heranhinkend am Arm der Zeit.“5
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Film-Empfehlung: “What Is a Woman?” von Matt Walsh
The English version of the article can be found here:
„If I give the promise to people in Ukraine: ‘We stand with you as long as you need us’, then I want to deliver, no matter what my German voters think, but I want to deliver to the people of Ukraine.”
„Many women, cis women, have the capacity for pregnancy. Many cis women do not have the capacity for pregnancy. There are also trans men who are capable of pregnancy as well as non binary people who are capable of pregnancy.“
„The man who can discover, shape, and distribute information has an enormous amount of power. The currency in our postmodern knowledge-regime is language, fact, image, and emotion. Learning how to wield these is the whole game.”
Die Inspiration zu diesem Zitat stammt aus Milosz Matuscheks Artikel „Gesucht: Inseln der Klugheit in einem Meer von Dummheit.“
„Las mentiras siempre vienen primero, arrastrando a los estupidos. La verdad siempre viene hasta el final, cojeando tomada del brazo del tiempo.”