Let's talk about sex... oder wie der woke Zeitgeist die Wissenschaftsfreiheit erstickt
Die Cancel Culture ist endgültig an deutschen Unis angekommen: Es gilt nun als diskriminierend, über das Geschlecht einer Kiwi zu reden.
Ein Kommentar zu „Geschlechter-Vortrag abgesagt: Humboldt-Uni in der Kritik” (veröffentlicht in der Welt am 4. Juli 2022)
Die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Universitäten musste diesen Monat erneut einen herben Rückschlag hinnehmen, als Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag mit dem Titel „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt” halten wollte. Ja, richtig gelesen. Zwei. Geschlechter. Zwei! Im woken Zeitgeist des Jahres 2022 steuert ein Vortrag mit solch einem Titel quasi direkt auf einen Shitstorm zu.
Und der kam mit voller Wucht. Ein Tag bevor sie die Präsentation bei der „Langen Nacht der Wissenschaften” halten wollte, erhielt Vollbrecht eine Email des RefRats, in der sie dazu angehalten wurde, ihre Präsentation über das Thema Zweigeschlechtlichkeit nicht zu halten. Der Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen rief zu öffentlichem Protest auf und bewertete Vollbrechts These der Zweigeschlechtlichkeit als „menschenverachtend”. Transaktivisten waren zudem empört über ein Paper, an dem sie mitgearbeitet hatte, welches die Öffentlich-Rechtlichen Medien dafür kritisierte, Kinder bereits im frühesten Alter mit Transideologie zu „indoktrinieren”. Der Titel des Papers lautete: „Ideologie statt Biologie im ÖRR”.
Vollbrecht wollte die Situation laut eigener Aussage deeskalieren, doch am Ende bekam die Humboldt-Universität kalte Füße und entschied, den Vortrag abzusagen aus Angst vor Gewalt seitens der Aktivisten. Während Transaktivisten die Zensur einer „transphoben Wissenschaftlerin” selbstverständlich lobten, übte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes scharfe Kritik daran, dass es einer Doktorandin verwehrt wurde, über ihren Fachbereich zu referieren.
Nicht gewillt, sich canceln zu lassen, hielt Vollbrecht ihren „skandalösen” Vortrag über das Geschlecht von Kiwis, Seeanemonen und Keimzellen in einem Livestream auf YouTube. Um ihr Gesicht zu wahren, ließ die Humboldt-Universität Vollbrecht ihren Vortrag rund zwei Wochen später letztlich doch halten. Am selben Abend – jedoch auf einem anderen Campus – wurde eine Podiumsdiskussion über die Kontroverse rund um Vollbrechts Vortrag abgehalten, unter anderem mit Gästen wie Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), Heiner Schulze des Schwulen Museums in Berlin und Jenny Wilken der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. Vollbrecht nahm nicht an der Diskussion teil. Der kommissarische Präsident der Humboldt-Universität Peter Frensch verteidigte die Entscheidung, ihren Vortrag abzusagen und erklärte erneut, dass Sicherheitsbedenken bezüglich der Proteste der Grund dafür gewesen seien. Zudem betonte er, dass Vollbrechts Referat ja nie abgesagt, sondern nur verschoben worden sei. Doch den Todesstoß ins Herz der Wissenschaftsfreiheit an der Humboldt-Universität versetzte deren Vize-Präsident Christoph Schneider: „Wir wollen nicht jede Debatte führen,” sagte er in einem Interview mit der ZEIT.
Doch wenn eine Universität keine kontroverse Debatte führen will, für was ist sie dann da? Sie wird nutzlos. Wenn es nur genug Aktivisten braucht, die gegen egal welches Thema protestieren, das nicht in ihr Weltbild passt, und so jegliche Diskussion im Keim ersticken und ihre Meinung der Allgemeinheit aufoktroyieren, egal wie unwissenschaftlich sie auch sein mag, dann können wir die Mission des wissenschaftlichen Fortschritts direkt an den Nagel hängen (die irrsinnige Behauptung der „rassistischen Mathematik” kommt einem da in den Sinn). Der Vorfall rund um Vollbrecht zeigt, dass die Cancel Culture nun auch die deutschen Campusse durchdrungen hat, ein gefährlicher Trend, vor dem Prof. Dr. Christian von Coelln bereits letztes Jahr gewarnt hatte, der nun jedoch mit voller Wucht eingetroffen ist. In der angelsächsischen Universitätswelt ist all dies leider schon lange nichts neues mehr, wie etwa der Fall von John Staddon zeigt, Professor der Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University, der gecancelled wurde, weil er behauptete, es gäbe zwei Geschlechter; oder Kriminologieprofessorin Jo Phoenix, die gegangen wurde, weil sie der Überzeugung ist, dass biologische Männer nicht in Frauengefängnisse gehören; oder Professorin Kathleen Stock der University von Sussex, die infrage stellte, ob „Gender-Identität ,sozial bedeutender’ ist als das biologische Geschlecht” und dafür derart heftigen Widerstand und regelrechtes Mobbing erfuhr, dass sie kündigte.
Und das sind nur ein paar der vielen Beispiele von Professoren und Wissenschaftlern im akademischen Bereich, die dafür vertrieben wurden, dass sie etwas konstatierten, was bis vor etwa fünf Sekunden noch als biologische Realität galt. Debatte ist nicht willkommen. Wissenschaftlicher Diskurs und Wissenschaftsfreiheit wurden am Altar der woken Ideologie und Cancel Culture geopfert. Kein Wunder, dass die akademische Stringenz in den letzten zwei Jahrzehnten stark gelitten hat, und dass ein gleichsam irrwitziger wie erschreckender Hoax namens Sokal Squared von James Lindsay, Helen Pluckrose und Peter Boghossian (letzterer kündigte seinen Posten an der Portland State University nach einer Hetzkampagne gegen ihn) zeigen konnte, dass selbst die verrücktesten pseudo-wissenschaftlichen Paper recht leicht in renommierten Wissenschaftsjournals veröffentlicht werden, solange sie nur in ein bestimmtes Weltbild passen. Ideologie siegt nun über Wissenschaft.
Die Konsequenzen für die Wissenschaft könnten verheerend sein. Auf was soll eine Wissenschaft wie die Biologie fußen, wenn wir fundamentale Fakten wie die Existenz der Chromosomenpaare eines Individuums (die dafür zuständig sind, dass es männlich, weiblich oder in sehr seltenen Fällen Intersex ist) nicht mehr konstatieren dürfen? Und wenn wir den grundlegendsten Fakt nicht mehr sagen dürfen, dass die Menschheit sich seit Anbeginn der Zeiten mithilfe eines männlichen Spermiums und einer weiblichen Eizelle vermehrt (jawohl, binär), ob es einem nun gefällt oder nicht, was passiert dann mit der biologischen Forschung an sich? Sie wird nichtig, obsolet.
Zu guter Letzt ist die Anschuldigung, dass Zweigeschlechtlichkeit „transphob” sei, ein logischer Trugschluss und ein Ad-Hominem-Argument allererster Güte, zumindest soweit ich das sehe. Die Realität zweier biologischer Geschlechter negiert nicht die Realität von Transgender-Personen, sie macht sie erst möglich. Wenn die Kategorie des Geschlechts in seiner Dualität nicht existiert, über was reden wir dann, wenn wir über die Transition zum Mann oder zur Frau sprechen? Was ist mit gegengeschlechtlicher Hormontherapie und geschlechtsumwandelnden Operationen? Was wird dann wohin umgewandelt? Was ist mit der Idee, dass man „im falschen Körper geboren” ist? Wie kann das eine Realität sein, wenn wir die Realität der Zweigeschlechtlichkeit verweigern?
Die Art und Weise, wie die Humboldt-Universität den Fall um Frau Vollbrecht behandelt hat, zeigt, dass die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Universitäten stark gefährdet ist. Es reicht heutzutage die Entrüstung und Wut von Aktivisten, um in der akademischen Welt (eigentlich ein Ort intellektueller Exzellenz und Meinungsfreiheit) jede unbequeme Stimme mundtot zu machen, weil man sich persönlich angegriffen fühlt. Alexander von Humboldt, der große deutsche Entdecker, Wissenschaftler und Namensgeber besagter Universität, würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen. Aber schon er erkannte, dass der Mensch einen großen Makel hat: „Der Mensch beurteilt die Dinge lange nicht so sehr nach dem, was sie wirklich sind, als nach der Art, wie er sie sich denkt und sie in seinen Ideengang einpasst.”
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Essay-Empfehlung: “Somewhere over the Rainbow, something went terribly wrong” der in London lebenden deutschen Künstlerin Jess de Wahls über Gender-Ideologie.
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