Wie Geschlechtsdysphorie salonfähig gemacht wird
Die Entpathologisierung psychischer Störungen wie Geschlechtsdysphorie hilft niemandem, vor allem nicht denen, die darunter leiden.
Ein Kommentar zu „From transgendered to ‘transabled’: Now people are ‘choosing’ to identify as handicapped“ (veröffentlicht auf Yahoo! News am 29. April 2023)
Der römische Dichter Juvenal prägte vor rund 2000 Jahren eine Redewendung, die bis heute bekannt und in allgemeinem Gebrauch ist: Mens sana in corpore sano. Zu Deutsch bedeutet dieser Ausdruck „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. Schon den alten Römern war klar, dass Geist und Körper untrennbar sind, wie zwei Seiten derselben Medaille, und eine Einheit bilden: Eine gesunde Psyche ist die Voraussetzung für einen gut funktionierenden Körper und umgekehrt.
Geht es dem Geist nicht gut, wird also mens sana zu mens aegra, so wird unweigerlich auch oft der Körper in schwere Mitleidenschaft gezogen. Die Erkrankung des Körpers – corpore aegro – kann zum einen eine psychosomatische Begleiterscheinung sein, wie etwa im Falle von Depressionen, Angststörungen oder Schlafstörungen, wo der Körper aufgrund psychischer Probleme nicht mehr richtig funktioniert. Eine psychische Störung kann den Körper aber auch bewusst zum eigenen Feindbild machen, wie es etwa bei Essstörungen1 (Bulimie, Magersucht, Binge-Eating), Selbstverletzung (Ritzen, Verbrennen usw.), körperdysmorphen Störungen und Geschlechtsidentitätsstörungen der Fall ist.
Während körperdysmorphe Störungen interessanterweise weiterhin als psychische Störung anerkannt sind – Hollywood-Schauspielerin Megan Fox beispielsweise gab erst kürzlich bekannt, dass sie darunter leidet –, so hat sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber der Geschlechtsidentitätsstörung bzw. auf Neusprech Geschlechtsdysphorie2 drastisch verändert. Die Pathologisierung letzterer sorgt heutzutage allgemein für Aufschrei und gilt wahlweise als „transphob“, „menschenrechtsfeindlich“ oder „Hassrede“.
Doch bislang habe ich noch kein schlüssiges Argument dafür gehört, warum eine Frau, die sich die Brüste abschneiden lassen will, weil sie sich für einen Mann hält, weniger pathologisch sein soll als eine Frau, die aufhört zu essen, weil sie sich trotz Untergewicht für zu dick hält – oder als eine Frau, die sich Abflussreiniger in die Augen schüttet, weil sie sich für eine Blinde hält.
Letzterer Fall ist weder ein schlechter Witz noch eine Übertreibung. Es ist die wahre Geschichte von Amber Shuping, genannt Jewel, die vor einigen Jahren zu internationaler Aufmerksamkeit gelang. Grund dafür war ihr Auftritt in der US-amerikanischen Talkshow Dr. Phil, in der sie im November 2015 öffentlich bekannt gab, dass sie sich selbst mithilfe von Abflussreiniger das Augenlicht genommen hatte. Laut einiger Aussage hatte Jewel bereits im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal die Idee gehabt, dass sie blind sein sollte. Doch erst nachdem sie als junge Erwachsene im Internet auf eine Gruppe von Leuten stieß, die willentlich als Blinde lebten, ohne blind zu sein, trat sie mit einem Psychologen in Kontakt, der sie dazu ermunterte, ihren perfiden Wunsch der Blindheit zur Realität zu machen: „[Der Psychologe] sagte mir, ich solle Nachforschungen anstellen, um zu zeigen, dass ich es ernst meine, und dass er mir helfen würde,“ so Jewel. Im Alter von 23 Jahren setzte sie den Plan schließlich in die Tat um und nahm sich das Augenlicht – ein Moment, auf den sie „ihr ganzes Leben lang“ gewartet habe.
Jewel wurde mit dem so genannten Body Integrity Identity Disorder (BIID), auch Body Integrity Dysmorphia (BID) – zu Deutsch Körperintegritäts-Identitätsstörung – diagnostiziert. Diese Störung bezeichnet den pathologischen Wunsch eines Menschen, eine körperliche Behinderung zu erlangen, wie Blindheit, Querschnittslähmung oder die Amputation eines Körperteils. Im englischsprachigen Raum wird diese Störung auch allgemein als transableism bezeichnet bzw. die Betroffenen selbst als transabled, wobei dieser Terminus auch für Leute verwendet wird, die sich als behindert „identifizieren“, ohne es tatsächlich zu sein.3
Besonders vielsagend sind die Reaktionen, die es damals einerseits von Dr. Phil und andererseits von seiner Kollegin Dr. Jennifer Ashton auf Jewels Schicksal gab. Ersterer versuchte in der Diskussion die Seite der blinden Jewel zu verteidigen, und zwar interessanterweise, indem er Parallelen zwischen der Körperintegritäts-Identitätsstörung und der Geschlechtsdysphorie zog, da beide Krankheitsbilder das vehemente Abstoßen einer Körpereigenschaft bzw. eines Körperteils implizieren. Dr. Ashton hingegen konnte ihren Emotionen kaum Einhalt gebieten und sagte frei heraus: „Ich habe wirklich Schwierigkeiten mit dem Ganzen. Bei allem Respekt gegenüber Jewel […] mein Herz springt mir gleich aus der Brust. Ich weiß gar nicht, was ich mit meinen ganzen Gefühlen machen soll, denn wenn ich jemanden sagen höre: ‚Ich habe schon immer gefühlt, dass ich blind sein sollte‘… Nun, ich habe schon immer gefühlt, dass ich die Königin von England sein sollte, aber ich ziehe nicht los, um die Königin von England zu werden!“
Selbst Dr. Phil musste einlenken, dass er dem Patienten im Falle des Wunsches nach einer Behinderung eine „länger andauernde Therapie“ empfehlen würde und diese Person „einige Jahre“ mit den Umständen dieser Behinderung leben solle, um zu sehen, ob das „wirklich das ist, was sie will“. Er fügte hinzu: „Es gibt so viele Punkte, die ich zunächst klären wollen würde, bevor diese Option [der Selbstverstümmelung] gewählt wird […] Komorbiditäten sind eine Realität, es gibt vieles, was hier parallel existiert.“
Eine Frau, die sich selbst das Augenlicht nimmt, weil sie sich im Inneren schon immer als blinde Person gefühlt hat: Selbst heutzutage, im Zeitalter postmoderner Enttabuisierung und Totalakzeptanz aller Lebensstile und -entscheidungen, werden die meisten Menschen sich einig sein, dass es sich hier um eine psychisch kranke Person handelt, die psychologische Hilfe und Unterstützung braucht.
Nun stellt sich die Frage: Was ist der Unterschied zu einer Frau, die sich die Brüste amputieren lassen will, weil sie sich im Inneren schon immer als Mann gefühlt hat? Oder zu einem Mann, der sich seine Genitalien amputieren lassen will, weil er sich als Frau fühlt?
Der Sprung von BIID zu Geschlechtsdysphorie ist ein leichter – Dr. Phil selbst zieht die Parallele in seiner Sendung: „Diese Menschen haben dieses starke Gefühl, dass etwas an ihrem Körper einfach nicht dazu gehört. Und das kann analog zur Geschlechtsdysphorie gesehen werden“, so Dr. Phil. „Diese Menschen, die mit dem Gefühl aufwachsen, dass sie eine Frau sind, die im Körper eines Mannes gefangen ist, oder ein Mann, der im Körper einer Frau gefangen ist. Sie wollen eine geschlechtsangleichende Operation. Das wurde lange Zeit als skurril angesehen und nun ist das nicht mehr so […] Aber in diesem Fall sagt Jewel, dass sie anstatt einer geschlechtsangleichenden Operation eine angleichende Operation für ihr Augenlicht will. Oder bei jemand anderem ist es ein Arm oder Bein, irgendein Körperteil, sie fühlen einfach, dass es ihnen fremd ist. Es gehört nicht zu ihrem Körper.“
In der Tat sind die Parallelen von Jewels Geschichte zu vielen Geschichten von Transpersonen (besonders trans-identen Jugendlichen) nicht von der Hand zu weisen. Psychisches Leiden ausgelöst durch extremes Unwohlsein mit und Zweifeln an der eigenen körperlichen Identität, oftmals begleitet von psychischen Begleiterkrankungen? Vorhanden. Das Finden von Gleichgesinnten in der Onlinewelt und deren Bekräftigung der ersehnten Identität? Vorhanden. Das ausschlaggebende Eingreifen eines „medizinischen Experten“, dessen professioneller Rat lautet, der Körper müsse der Wunschidentität angepasst werden? Vorhanden. Das Präsentieren eben dieses radikalen medizinischen Eingriffs in den Körper als Lösung des psychischen Leidens? Vorhanden.
Der entscheidende Punkt ist, dass man damals – es war das Jahr 2015, also noch vor dem Ausbruch der kulturellen Pandemie des #WokeMindVirus – zumindest frei sagen konnte, dass man es bei Geschlechtsdysphorie, genau wie bei BIID, mit einer psychischen Störung zu tun hat und man diese dementsprechend als solche behandelte, nämlich therapeutisch und nicht chirurgisch. Mit der ausdrücklichen Entpathologisierung des Krankheitsbildes im Namen der Entstigmatisierung, die bereits 2013 mit dem Umbenennen von „Geschlechtsidentitätsstörung“ in „Geschlechtsdysphorie“ (und später in „Geschlechtsinkongruenz“) im DSM-54 begann, dauerte es nicht lange, bis aus einer psychischen Störung ein Normalzustand und schließlich ein Idealbild wurde: Das Outing als transgender wird mittlerweile als regenbogenfarbene Erlösung aus der psychischen Misere dargestellt, teilweise bereits im Kleinkindalter zelebriert. Wenn man etwa das Wort top surgery (ein englischer Euphemismus für Brustentfernung) bei TikTok eingibt, bekommt man eine lange, bedrückende Liste von Videos präsentiert, in denen junge Mädchen und Frauen ihren verstümmelten Torso stolz in die Kamera halten. Die Geschlechtsdysphorie wird zur Geschlechtseuphorie umgedeutet, aber erst nachdem irreparable Schäden am Körper angerichtet wurden.
Wer jedoch selbstverstümmelnde Maßnahmen wie Mastektomien, Penektomien und Geschlechts-OPs euphorisch zelebriert, der muss in logischer Konsequenz auch Menschen wie Jewel zelebrieren, die sich selbst Abflussreiniger in die Augen kippen, um sich in ihrem wahren und gefühlten Selbst als blinde Frau zu verwirklichen. Es gibt keinen logischen oder argumentativen Unterschied zwischen der Entfernung der Brüste oder des Penis im Namen der Geschlechtsdysphorie und der Entfernung des Augenlichts im Namen von BIID. Sogar Dr. Phil gibt dies zu.
Jewels bizarre wie tragische Geschichte zwingt uns, darüber nachzudenken, inwiefern grenzenlose Akzeptanz dysphorischen Menschen wirklich hilft und ob wir uns als Gesellschaft mit der Lobpreisung sämtlicher noch so destruktiver Lebensentscheidungen wirklich einen Gefallen tun. Die woke Linke will uns eintrichtern, Grenzen seien Ausdruck purer Unterdrückung und ein Machtinstrument des Patriarchats. Doch Grenzen sind oft notwendig zu unserem eigenen Schutz und Wohl. Die Sicherstellung körperlicher Unversehrtheit durch gesellschaftliche Regeln und Gesetze gehört hier dazu: Selbstverstümmelung ist kein Recht. Es ist eine grausame Art des Selbsthasses, vor dem der Mensch – und ganz besonders Kinder – um seines eigenen Wohles bewahrt werden muss.
Um das Konzept der Akzeptanz wieder in ein sinnvolles Maß zu führen, muss zum Zweiten auch eine gewisse Normativität wiederhergestellt werden, die es uns erlaubt, psychische Störungen überhaupt als solche zu bezeichnen – und zwar nicht, um Kranke zu stigmatisieren, sondern vielmehr, um ihnen zu helfen. Durch die Entpathologisierung von psychischen Krankheiten wie etwa Geschlechtsdysphorie, ja sogar deren Huldigung im Namen einer angeblich mutigen Reise zur Selbstfindung im anderen Geschlecht, ebnet man den Weg zur Relativierung und schließlich zur Normalisierung derselben. Eine psychische Störung, ein psychisches Leiden – denn Menschen mit wirklicher Geschlechtsdysphorie leiden massiv – wird somit salonfähig gemacht und damit auch die medizinische „Lösung“ in Form von Hormontherapien und Operationen, die den Patienten lebenslang abhängig von Medikamenten machen, oftmals zu schwerwiegenden post-operativen Komplikationen und Krankheiten führen können und erwiesenermaßen die Lebenszeit verkürzen. Ist dies wirklich im Sinne des Patienten?
Die Normalisierung von selbstverletzendem Verhalten – die Entpathologisierung von Pathologien – kann nicht das Ziel sein. Eine Gesellschaft, die es aus fehlgeleiteter Akzeptanz versäumt, dem kranken Geist zu helfen, ist letztlich zutiefst menschenfeindlich und nihilistisch, da sie dem Kranken keine wirkliche Hilfe anbietet und sondern ihn noch weiter hinunterreißt in eine Abwärtsspirale von psychischem und physischem Leid. Mens aegra in corpore aegro – ein kranker Geist in einem kranken Körper – ist die Antithese von dem, was Juvenal einst beschrieb und vor allem von dem, was eine gesunde Gesellschaft als erstrebenswert erachten sollte.
„Man muss darum beten, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohne.
Verlange ein tapferes Herz, das keine Todesfurcht kennt,
das ein langes Leben als letztes unter die Geschenke
der Natur rechnet, das jedwede Anstrengungen ertragen kann…“
– Juvenal, Satire X
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Aktuelle Lektüre: “Conversations on Love” von Natasha Lunn.
The English version of the article can be found here:
Lionel Shriver hat zu den Parallelen von Anorexie und Geschlechtsdysphorie einen hervorragenden Artikel für UnHerd geschrieben: „Is trans the new anorexia?“
Bei einer Geschlechtsdysphorie können Menschen ihr biologisches, körperliches Geschlecht und ihre gefühlte Geschlechtsidentität nicht miteinander vereinbaren, d.h. sie fühlen sich dem anderen Geschlecht zugehörig.
An dieser Stelle sei auf Jørund Viktoria Alme verwiesen, ein gesunder Mann, der sich als querschnittsgelähmte „Transfrau“ identifiziert.
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) ist der wichtigste Leitfaden für die Diagnostizierung psychischer Krankheiten in den USA. 2015 kam die fünfte Auflage (DSM-5) heraus.