Von schwarzen Meerjungfrauen und weißen Indianern: Die Doppelmoral der kulturellen Aneignung
Während es gefeiert wird, dass Arielle die Meerjungfrau von einer schwarzen Darstellerin verkörpert wird, wurde Winnetou aufgrund des Vorwurfs der „kulturellen Aneignung“ gecancelt.
Ein Kommentar zu „„Schau, sie ist auch schwarz!“ Kinder reagieren begeistert auf Arielle-Trailer“ (veröffentlicht in der Berliner Zeitung am 14. September 2022)
Als ich ein Mädchen war, gab es in unserem Haus eine ganze Regalreihe voll mit VHS-Kassetten von Disneyfilmen. Vom Dschungelbuch und König der Löwen, über Die Schöne und das Biest und Aladdin, bis hin zu Pocahontas und Arielle die Meerjungfrau waren dort alle Klassiker vertreten und so manch einen dieser Filme habe ich als Kind wahrscheinlich zwei Dutzendmal gesehen. Aufgrund ihrer Emotionalität, Universalität und Liebe zum Detail ist der Zauber der Disneyfilme bis heute ungebrochen – trotz aller Kritik, die man Disney zweifellos vorwerfen kann. Doch kein Unternehmen hat das Genre des Kinderfilms weltweit derart geprägt wie Disney, was sich zum einen in der Bekannt- und Beliebtheit der Disney-Werke, zum anderen im finanziellen Erfolg des Unternehmens widerspiegelt.
Der neueste Schrei bei Disney sind so genannte „Live-Action“-Remakes alter Klassiker, bei denen mit echten, menschlichen Darstellern und viel CGI altbekannte Geschichten wie das Dschungelbuch, Aladdin oder Mulan neuverfilmt wurden. Als nächstes auf der Liste der Remakes steht Arielle, für das Disney jüngst den ersten Teaser-Trailer veröffentlichte. Darin zu sehen ist Halle Bailey, die neue afro-amerikanische Darstellerin der Arielle, deren Casting für viel Furore in den Medien und unter den Fans sorgte.
Auf der einen Seite erntete Halle Baileys Casting großen Beifall: Im Sinne der Vielfalt und Repräsentation von Minderheiten sei Disneys Entscheidung hervorragend gewesen, heißt es. Herzerwärmende Videos von kleinen Mädchen, die sich über die neue schwarze Arielle freuten, machten in den Medien die Runde, von BuzzFeed in den USA, über die Berliner Zeitung in Deutschland bis zu La Sexta in Spanien. Auf der anderen Seite befeuerte der Trailer in sozialen Medien eine Debatte um die Frage, ob die traditionell als rothaarige, weiße Meerjungfrau bekannte Märchenfigur, die lose auf der Geschichte des Dänen Hans Christian Andersen basiert, von einer schwarzen Schauspielerin verkörpert werden dürfe.
Wie so oft wird die Debatte am eigentlichen Knackpunkt vorbei geführt. Zunächst einmal geht es nicht um Halle Bailey an sich. Sie erweckt den Eindruck einer talentierten Sängerin und Schauspielerin und wird als bildhübsche Arielle sicherlich das Kinopublikum begeistern können. Dass sich nun besonders junge schwarze Mädchen über eine schwarze Arielle freuen dürfen, mit der sie sich identifizieren können, ist eine schöne Sache. Auch das Argument des Traditionsbruchs greift nur bedingt, denn bei einer Märchenfigur darf jeglicher Haut- und Haarfarbe – gerade im Sinne der postmodernen Remakekultur – freien Lauf gelassen werden, solange es im Rahmen der internen Logik der Geschichte Sinn macht. Ob eine Meerjungfrau weiß oder schwarz oder gelb oder grün ist, sollte eigentlich irrelevant sein. Wir reden hier immerhin über eine Fischfrau.
Die eigentliche Debatte liegt woanders. Sie liegt darin, dass es eine eklatante Doppelmoral gibt und dass für verschiedene Gruppen verschiedene Maßstäbe angesetzt werden. Eine schwarze Arielle bei Disney: wundervoll. Dunkelhäutige Elfen im neuen Mittelerde von Amazons The Rings of Power: fortschrittlich. Eine schwarze Lucienne anstatt eines weißen Lucien in der neuen Verfilmung von Neil Gaimans Sandman: lobenswert. Nun stelle man sich umgekehrt folgendes vor: einen weißen Mogli, eine weiße Lilo mit ihrem Stitch, oder eine weiße Storm bei den X-Men. Hier wiederum greift nur ein Adjektiv: undenkbar. Denn hier, so die Logik der Linksintellektuellen und woken Hüter des Kulturgesetzes, handle es sich um fremdenfeindliche „kulturelle Aneignung“. Die Logik scheint folgende zu sein: Werden traditionell weiße Figuren aus Geschichten mit People of Color besetzt, ist dies gut. Werden umgekehrt traditionell nicht-weiße Figuren aus Geschichten mit Weißen besetzt, ist dies böse.
Dies gilt auch für fiktive Charaktere, die innerhalb eines realen geschichtlichen Rahmens agieren: Als 2021 der afro-amerikanische Hollywoodstar Denzel Washington als schottischer Befehlshaber in einer Neuverfilmung von Shakespeares Macbeth gecastet wurde, wurde dies gehuldigt. 2022 hingegen wurde Karl Mays Winnetou sowohl als Buch als auch als Film (aus den 1960ern mit dem Franzosen Pierre Brice als Indianerhäuptling) als rassistisch abgestempelt und gecancelt. Am regelrechten Rufmord von Winnetou, dessen Darstellung von amerikanischen Ureinwohnern als verletzend und stereotypisierend verteufelt wurde, zeigte sich diese Doppelmoral ganz besonders. Dass ein Native American der große Held und Namensgeber von Mays Epos ist (für das 19. Jahrhundert revolutionär) und die Sioux im Jahr 1928 an Mays Grab sogar eine so genannte Indianerhuldigung auf den deutschen Schriftsteller hielten, wird heute gern vergessen. Dass er in seinen Werken für Toleranz, Völkerverständigung und Frieden plädierte ebenso.
Der Vorwurf der kulturellen Aneignung geht also nur in eine Richtung und entlarvt somit seine Scheinheiligkeit. Er ist zum einen ein Zeichen totaler Ignoranz bezüglich der kontinuierlichen kulturellen Vermischung, die es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gibt und von der wir bis heute profitieren. Er ist zudem eine Verallgemeinerung sämtlicher „Weißen“ und „Schwarzen“ und blendet völlig aus, dass weder ein Australier und ein Italiener, noch ein Afro-Amerikaner und ein Tansanier dem gleichen Kulturkreis angehören, nur weil sie dieselbe Hautfarbe haben. Er zeugt drittens von toxischem Schubladendenken, das zwei Kollektive – die weißen „Täter“ und die restlichen „Opfer“ – gegeneinander ausspielt und „fördert rassistisches Denken durch die Hintertür“, wie David Signer in der NZZ treffend schreibt. Die Hautfarbe wird in dieser Diskussion zum dominanten Schuldmerkmal der Person erklärt, die deshalb eine Überkompensierung für die ihr aufgelegte historische Kollektivschuld leisten muss. Das führt dann so weit, dass europäische Folklore – und dazu gehört Andersons Arielle – sich dafür entschuldigen muss, dass ihre fiktiven Charaktere nun mal weiß sind, und sie dementsprechend neu besetzt. Das läuft im englischen Sprachraum unter dem treffenden Ausdruck des virtue signalling.
Dabei hat Disney das virtue signalling gar nicht nötig, zumindest nicht, wenn es um Kulturdiversität geht. Aller Stereotype zum Trotz – und man darf nicht vergessen, wir reden hier von Folklore und Märchen, in denen es immer einen gewissen Grad an Stereotypisierung in alle Richtungen gibt – trug Disney massiv zur globalen Popularisierung nicht-europäischer Mythen, Märchen und Charaktere bei: Aladdin, inspiriert durch die Märchen aus 1001 Nacht aus dem arabischen Kulturraum, schaffte es 1992 zu weltweitem Erfolg. Man denke an die Häuptlingstochter Pocahontas, die chinesische Kämpferin Mulan, oder die afro-amerikanische Tiana aus Küss den Frosch, die allesamt Kultstatus erreicht haben. Sie zeigen: Wenn es darum geht, mehr Kulturen und Hautfarben zu repräsentieren – und ja, das ist wichtig –, kann man sich von dem reichen, nicht-europäischen Folkloregut wunderbar inspirieren lassen und diese Filme mit entsprechend passenden Charakteren bzw. Darstellern besetzen.1
Die Debatte um Arielles Hautfarbe ist letztendlich eine traurige Debatte, denn sie zeigt: Von Farbenblindheit im Sinne Martin Luther Kings scheint die Gesellschaft weit entfernt zu sein und anscheinend ist sie heutzutage wieder weiter davon entfernt als noch vor 20 oder 30 Jahren. Daran schuld sind nicht zuletzt radikale Konzepte wie der toll klingende, aber brandgefährliche Anti-Rassismus sowie Wokeness in all seinen Formen, die behauptet, man könne sich nur mit Charakteren identifizieren, die so sind und ausschauen wie man selbst. Ich erinnere mich, dass es mir als kleines Mädchen ziemlich schnuppe war, ob meine Märchenhelden die hellhäutige Belle, die braune Pocahontas, ein dunkelhäutiger Junge im Dschungel oder ein sprechender Löwe in der Savanne waren. Darum ging es nie und darum sollte es nicht gehen. Es geht um Menschlichkeit, nicht Hautfarbe, es geht um Gemeinschaft, nicht Spaltung, es geht um Toleranz, nicht das Niedermachen anderer. Eine dunkle Arielle darf genauso Heldin sein für Kinder wie es ein weißer Winnetou ist.
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Aktuelle Lektüre: “Greenwood” von Michael Christie.
The English version of the article can be found here:
Was Disney hier übrigens tut, ist tatsächlich nichts anderes als kulturelle Aneignung von nicht-amerikanischem Folkloregut.
Farbblindheit wäre "rassistisch", da man damit die "strukturelle Benachteiligung" von Farbigen leugnet bzw. ignoriert. Starker Beitrag, danke. yx