Ewiger Täter, ewiges Opfer – über die Gefahren kollektiver Schuldzuweisung und kollektiven Opferdenkens
„Menschen werden plötzlich wieder in Gruppen eingeteilt”, beklagt Islamismus-Experte Ahmad Mansour. Und er hat recht: Vorwürfe der Kontaktschuld und rigide Gruppenidentität spalten die Gesellschaft.
Ein Kommentar zu „Menschen werden wieder in Gruppen eingeteilt. Wie rassistisch ist das denn?”, ein Interview mit dem Psychologen und Islamismus-Experten Ahmad Mansour (veröffentlicht in der Basler Zeitung am 23. August 2022)
Im November 2020, infolge des grausamen Mordes an George Floyd, veröffentlichte die British Library im Zuge ihres „aktiven Anti-Rassismus“ eine Liste mit den Namen von über 300 Autoren, die angeblich eine „Verbindung“ zum Sklavenhandel oder den Britischen Kolonialismus hatten. Nun war diese Liste nicht auf Autoren beschränkt, die tatsächlich im Sklavenhandel involviert waren oder sich offen rassistisch äußerten. Vielmehr konnte diese „Verbindung“ jeglicher Vorfahre sein, der mit dem Sklavenhandel Geld verdient oder in irgendeiner Art und Weise damit zu tun hatte, teilweise vor Jahrhunderten, solange eine Blutsverwandtschaft bestand. George Orwell beispielsweise hatte das Unglück, einen Ur-Urgroßvater zu haben, der ein Sklavenbesitzer in Jamaika war. Samuel Taylor Coleridge wurde ebenfalls in das Dossier der Missetäter aufgenommen, da einer seiner Neffen in Barbados mit Anwesen zusammenarbeitete, auf denen es Sklaven gab. Sogar Ted Hughes, der erst 1930 geboren wurde, schaffte es auf die Liste, da ein entfernter Verwandter mit der London Virginia Company involviert war – über 300 Jahre, bevor er überhaupt geboren wurde.
Nach einem medialen Aufschrei über die Absurdität, jemanden wie Hughes auf diese Liste zu setzen, entschuldigte sich die British Library bei Hughes’ Witwe und zog das komplette Dossier zurück. Das vorläufige Zurückziehen des Dossiers ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Orwell, Coleridge, Hughes und viele andere nicht etwa wegen ihrer eigenen Verfehlungen auf diese Liste gesetzt worden waren, sondern wegen der Verfehlungen von jemandem, mit dem sie zufälligerweise verwandt waren, oder in anderen Worten: wegen Kontaktschuld. Diese Denkweise ist im besten Fall beunruhigend, im schlimmsten Fall ist sie gefährlich. Denn jemanden aufgrund der Missetaten seines Ur-Urgroßvaters zu verurteilen bedeutet, jemanden für etwas zu verurteilen, das er nicht getan hat. Ein solches Urteil reduziert das Individuum (in diesem Falle sogar posthum) auf die Beliebigkeit seiner Blutsverwandtschaft, Herkunft oder Nationalität, und blendet dessen eigene Taten komplett aus. Man könnte auch sagen: es ist rassistisch.
Kontaktschuld ist eng verwandt mit Kollektivschuld – es sind zwei Seiten derselben Münze. Letztere beruht darauf, dass ein bestimmtes Merkmal (Hautfarbe, Nationalität, etc.) entscheidet, ob man zur Gruppe der Schuldigen oder der Opfer gehört. Wo die einst unterdrückende Gruppe Macht hatte, so soll sie jetzt der einst unterdrückten Gruppe gegeben werden. Die Kollektivschuld blendet alles Positive des betroffenen Kollektivs aus und verzerrt so den Blick des Kollektivs auf sich selbst. Wie ein Damoklesschwert hängt die Schuld über allem und verlangt die ewige Reue für die Taten der Vorfahren.
Wenn wir die Idee der Kollektivschuld zu ihrem logischen Schluss durchdenken, dann verurteilen wir die eine Seite dazu, der ewige Täter zu sein und die andere Seite dazu, das ewige Opfer zu sein. Wir reduzieren Menschen auf ihr willkürliches genetisches und gesellschaftliches Erbe, das sie zu einem willkürlichen Mitglied eines willkürlichen Kollektivs macht, basierend auf völlig willkürlichen äußeren Merkmalen. Wie Ahmad Mansour in seinem Interview mit der Basler Zeitung erklärt, ist dies schon lange keine Seltenheit mehr: „Menschen werden plötzlich wieder in Gruppen eingeteilt: Hautfarbe, Religiosität, Nationalität. Alle Minderheiten sind gut, alte und weiße Menschen: ganz böse. Wie rassistisch ist das denn?”
Paradoxerweise werden diese Ideen im Namen des so genannten „Anti-Rassismus“ propagiert und, was noch erstaunlicher ist, die meisten (weißen, der Mehrheit zugehörigen) Leute sagen nichts dagegen. Die Kontaktschuld – d.h. die Tatsache, dass man mit Leuten in Verbindung steht, die etwas Schlimmes getan haben – ist bereits so verinnerlicht, dass man unbedingt „moralische Überlegenheit“ demonstrieren will, wie Mansour sagt, sodass man sich mit „Anti-Rassismus“ schmückt. Dieser ist aber nichts anderes als eine neue Art von Rassismus, verkleidet als Toleranz. „Anti-Rassismus“ bedeutet prinzipiell, dass man einer Gruppe von Leuten einredet, sie sei von Grund auf privilegiert und schuldbeladen (momentan hat der der alte, weiße, heterosexuelle Mann die schlechtesten Karten) und einer anderen Gruppe von Leuten, dass sie von Grund auf Opfer seien und deswegen konstant diskriminiert würden (jeder, der nicht alt, weiß, heterosexuell oder männlich ist). Dies erzeugt eine Endlosschleife von Tätern und Opfern, die unwahrscheinlich menschenverachtend ist. Und diese Dynamik ist brandgefährlich.
Zum ersten schafft sie eine toxische „Wir gegen Sie“-Dynamik, die auf beiden Seiten des Atlantiks beobachtet werden kann und viele westliche Gesellschaften spaltet. Willkürliche äußere Faktoren wie Ethnie und Nationalität (im erweiterten Sinne auch Geschlecht oder sexuelle Orientierung) bestimmen, ob Menschen zur Gruppe der Unterdrücker oder Opfer zählen. Anstatt über ihre eigenen Meinungen und Taten wird eine Person über ihre Gruppenidentität definiert. Ted Hughes wurde nicht gecancelt, weil er selbst rassistische Bücher geschrieben hat, sondern weil er ein weißer Engländer war (also schuldig), der zufälligerweise einen entfernten Verwandten hat, der von Jahrhunderten irgendetwas mit dem Kolonialismus zu tun hatte (also besonders schuldig). Da Hughes verstorben ist, kann er sich nicht einmal mehr wehren, doch wäre er heute noch am Leben, würden ihn die Medien und die akademische Welt wahrscheinlich direkt canceln, da er nun mal Teil des zu Unterdrückern erklärten Kollektivs ist, dem er nicht entkommen kann.
Womit wir zum zweiten Punkt kommen: Das momentane Aufblühen der Cancel Culture ist eine direkte Folge dieser gefährlichen Mischung aus indoktrinierter Kollektivschuld und selbstaufopfernder Toleranz. Dort wo die Gruppenidentität, basierend auf der Ethnie, der Nationalität etc., wichtiger ist als die Individualität eines Menschen, wird der Diskurs ethnisch, soziokulturell und emotionell aufgeladen und das zum Leidwesen einer nuancierten, bedachten und respektvollen Kommunikation. Konstruktive Kritik und Debatte werden unmöglich gemacht, da die Person aus der Opfergruppe stets mit Vorwürfen gegen die Person aus der Tätergruppe kommen und sie mundtot machen kann. Doch es geht sogar noch weiter: Man wird nun von seiner eigenen Gruppe angefeindet, wenn man nicht die Meinung vertritt, die man als Mitglied dieser Gruppe haben sollte (bestes Beispiel: der afro-amerikanische Professor John McWhorter, der Critical Race Theory kritisiert, was ihn bei seiner eigenen Peergroup überaus unbeliebt gemacht hat). Diese Art manichäischen Denkens erstickt jegliche Konversation oder Debatte im Keim. Wenn man weiß ist, ist man per se der Unterdrücker, man ist privilegiert, man muss stets Wiedergutmachung leisten. Wenn man Person of Color ist, ist man per se unterdrückt, man ist immer das Opfer, man muss in allem eine rassistische Handlung vermuten. Wenn man weiblich ist, leidet man immer unter dem Patriarchat, man wird immer unfair behandelt und muss immer dagegen ankämpfen. Und so weiter und so fort. In einem solchen Klima des Neutribalismus stimmt man entweder den vorgeschriebenen Meinungen der Gruppe zu oder man wird für immer aus ihr verbannt.1
Als letzte Folge konstanter Schuldzuweisung und konstantem Opferdenkens wird eine Generation herangezogen, die entweder sehr wütend und/oder sehr depressiv sein wird. Wenn man den Leuten nur lange genug eintrichtert, dass sie rassistisch/frauenfeindlich/(hier Gruppe einfügen)-phob sind, weil sie weiß/männlich/heterosexuell/(hier Gruppe einfügen) sind; oder dass sie konstant unterdrückt und benachteiligt werden, weil sie People of Color/weiblich/LGBTQ+/(hier Gruppe einfügen) sind, dann erodiert man damit für beide Seiten die Fähigkeit, sich ein Selbstwertgefühl aufzubauen. Wenn man Menschen sagt, dass sie sich schuldig fühlen müssen, obwohl sie nichts Falsches getan haben, sie aufgrund der Verbrechen ihrer Vorfahren ächtet, und ihnen somit jegliche Möglichkeit nimmt, auf das stolz zu sein, was sie sind, dann schafft dies Wut, Misstrauen und – unweigerlich – mehr Hass. Wenn man Menschen sagt, dass sie von vornherein Opfer sind, man sie im Namen des „Anti-Rassismus“ oder der „Gleichstellung“ anders behandelt, als ob sie selbst nicht dazu in der Lage wären, etwas auf die Beine zu stellen, und ihnen somit jegliche Möglichkeit nimmt, auf das stolz zu sein, was sie tun, dann schafft dies Wut, Misstrauen und – ja – mehr Hass. Diese Denkweise vergiftet die Möglichkeit einer offenen, unvoreingenommenen Begegnung zwischen Menschen, die zu verschiedenen Gruppen gehören, und sie zerstört Verständnis, Diversität und Individualität.
Wir müssen die einzelne Person von ihrer willkürlichen Gruppenidentität entkoppeln und uns wieder rückbesinnen auf den Charakter einer Person und nicht auf deren äußere Merkmale. Die Welt ist viel zu komplex, um sie mit einer bloßen „Opfer/Täter“-Dynamik wahrzunehmen, und sie ist definitiv zu komplex, um einfach jedem Schuld zuzuweisen, der mit jemandem in Verbindung steht, der in der Vergangenheit etwas Schlimmes getan hat. Orwell war kein Rassist2, Coleridge und Hughes genausowenig. Der europäische und amerikanische Westen muss diese anachronistische Idee ewiger Schuld hinter sich lassen, sonst werden sie in einer Dynamik von (Selbst)Hass versinken, die die Gesellschaft spaltet und die jegliche Diskussion oder Debatte unmöglich macht aus Angst davor bestraft, gecancelt oder als diskriminierend abgestempelt zu werden. Niemand ist von Geburt an schuldig. Niemand ist von Geburt an Opfer. Das Einzige, was wir von Geburt an sind, ist menschlich.
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Podcast-Empfehlungen: The Gloves Come Off: A New Strategy for Fighting the Woke | Rubin Report with Douglas Murray sowie, erneut, How Anti-Racism Is Hurting Black America | John McWhorter & Jordan Peterson
The English version of the article can be found here:
Ich frage mich bei diesem Schwarz-Weiß-Denken auch immer: Was ist mit Leuten gemischter Herkunft? Die haben in diesem Schema überhaupt keinen Platz.
Man möge dazu beispielsweise seine fantastische Kurzgeschichte “Shooting an Elephant” lesen.