Schuldig ohne Anklage: Wie #MeToo der Unschuldsvermutung den Todesstoß versetzt hat
Durch die Exzesse der #MeToo-Bewegung werden nicht nur Männer pauschal als sexuelle Aggressoren abgestempelt, sondern auch Frauen pauschal zu hilflosen Opfern degradiert.
Ein Kommentar zu „Rammstein: Staatsanwaltschaft Berlin stellt Ermittlungen gegen Till Lindemann und Alena Makeeva ein“ (veröffentlicht in der Berliner Zeitung am 29. August 2023)
Till Lindemann muss nicht vor Gericht. Der berühmt-berüchtigte Frontsänger der deutschen Band Rammstein war am 25. Mai 2023 von der Nordirin Shelby Lynn auf Twitter beschuldigt worden, ihr bei einer Konzertparty in Vilnius gegen ihren Willen Drogen in den Drink beigemischt zu haben, womöglich um sie zu sexuellen Handlungen gefügig zu machen. Laut der Berliner Staatsanwaltschaft konnte sich nach wochenlangen Ermittlungen jedoch kein Verdacht erhärten; es seien weder ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz festgestellt noch handfeste Indizien auf einen sexuellen Übergriff gefunden worden.
In ihrer Stellungnahme erklärte die Berliner Staatsanwaltschaft, dass diverse Ermittlungsversuche im Fall Lindemann ins Leere geführt haben. Kein Zeuge war bereit, mit der Polizei zu sprechen, um Lynns Story zu bekräftigen; die Identität potenziell vernehmbarer Personen kannte somit nur die Presse. Die einzig namentlich bekannte Person, die YouTuberin Kayla Shyx, die in einem viral gegangenen Video über die Partys bei Rammstein-Konzerten erzählt hatte, sei in den Schilderungen zu unkonkret geblieben, zumal sie „kein eigenes Erleben strafrechtlich relevanter Vorfälle schildern konnte“, sondern nur das von Dritten. Auch die Auswertung der Ermittlungsunterlagen der litauischen Polizeibehörden ließen keine konkreteren Rückschlüsse auf die Vorwürfe gegen Lindemann zu. Lynn hatte behauptet, dass ihr Getränk „gespikt“, also mit Drogen versetzt worden war, da sie nach dem Rammstein-Konzert und der Afterparty mit Erinnerungslücken und Hämatomen aufgewacht war. Doch ein von Lynn veranlasster Drogentest war negativ ausgefallen und Fotos der Blutergüsse an ihrem Bauch seien laut Staatsanwaltschaft als Beweis nicht ausreichend.
Trotz Mangel an konkreten Beweisen für ein Vergehen – und Lynns eigener Aussage, dass Lindemann sie nicht angefasst habe – hieß es seit dem 25. Mai von Seiten der Medien „Feuer frei“ auf den Frontsänger. Natürlich war diese Neuauflage eines potenziellen #MeToo-Skandals ein gefundenes Fressen für die Presse, allen voran für den Spiegel, der sich begeistert einer Verdachtsberichterstattung hingab, für die konkrete Beweise jedoch fehlten. Lindemann erwirkte mit anwaltlicher Hilfe eine einstweilige Verfügung gegen das Magazin, später ebenso gegen die Süddeutsche Zeitung und den NDR, die behaupteten, er hätte zwei Frauen zu sexuellen Handlungen gezwungen.
Im Zuge der Anschuldigungen an Lindemann kamen zudem Details über ein Castingsystem der Band bzw. ihres Frontsängers ans Tageslicht, über das junge Frauen für die Pre- und Aftershowpartys rekrutiert wurden – so wie auch Shelby Lynn. Verschiedene Reportagen, unter anderem durch die Welt und die Neue Zürcher Zeitung, berichteten über die so genannte „Row Zero“, der Reihe an ausgewählten weiblichen Fans, die von einer Rammstein-Mitarbeiterin und selbsternannten „Castingdirektorin“ namens Alena Makeeva im Vorfeld eines jeden Konzerts über soziale Medien ausgewählt, angeschrieben und eingeladen wurden. Diese Frauen durften Till Lindemann persönlich im Backstagebereich kennen lernen, einige Erwählte mit ihm die Konzertpause privat verbringen; wer wollte, kam später mit auf die Afterparty oder ins Hotel. Gegen Makeeva war ebenfalls ein Verfahren eingeleitet, doch aufgrund mangelnder Beweise eingestellt worden. Makeeva wurde von der Band mittlerweile entlassen.
Ein fragwürdiges Castingsystem für hübsche Groupies, das angebliche Untermischen von Drogen in Getränke, mutmaßlich uneinvernehmlicher Sex mit jungen Frauen: die Causa Lindemann schien die hässlichsten Seiten einer frauenverachtenden, sexistischen Musikindustrie offenzulegen und kam dem skandalgierigen Medienapparat somit gerade recht. Anstatt diese Vorwürfe differenziert zu betrachten und die offiziellen Ermittlungen abzuwarten – kurzum: anstatt anständige journalistische Arbeit zu leisten –, eröffnete die Presse eine Hetzjagd auf Till Lindemann, der – obgleich sicherlich kein moralisch Unbefleckter – die grausame, gewalttätige Facette des Sexismus des alten weißen Mannes im Zeitalter des #MeToo mal wieder zu bestätigen schien.
Das erste Opfer in diesen emotional aufgeladenen und medial ausgeschlachteten Skandalfällen ist das rechtliche Prinzip der Unschuldsvermutung. Ja, auch Männer haben das Recht auf dieses Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Gerade bei solch schwierigen Fällen wie sexueller Belästigung, Nötigung oder Missbrauch – welche oft schwer nachzuweisen sind – ist es fundamental, an dem Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – festzuhalten, bis ein Gerichtsurteil gesprochen wurde. Der Verdächtigte muss vor etwaigen falschen Anschuldigungen und Rufmord geschützt werden.
Doch im Fall Lindemann wurde, so wie es mittlerweile oft geschieht, der Grundsatz der Unschuldsvermutung bereits vor Einleitung eines Gerichtsverfahrens über Bord geworfen und mit ihm jegliche Art von differenzierter Berichterstattung. Lynn erzählte gegenüber der Welt, dass sie während der Konzertpause in Vilnius in einen privaten Bereich geführt worden war, wo sie alleine auf ihr Idol Till Lindemann traf. Diesem sagte sie, sie sei für keine sexuellen Handlungen verfügbar. Laut Lynn sei Lindemann daraufhin laut und wütend geworden, habe sie aber nicht angefasst. Es steht außer Frage, dass dies kein angemessenes Verhalten ist. Dennoch geht es eindeutig zu weit, dass Presseorgane wie der Spiegel den Fall Lindemann mit Harvey Weinstein verglichen, der – um das mal kurz festzuhalten – ein mehrfach verurteilter Sexualstraftäter ist. Dabei hatte Shelby Lynn selbst gesagt, Lindemann hätte sie nicht angefasst.
Doch die Unschuldsvermutung scheint im heutigen Journalismus nicht mehr zu zählen. Vielmehr zählen Zahlen, es zählen Klicks, es zählt der Skandal. Ob dabei die Reputation eines Mannes zerstört wird, interessiert keinen – wieso auch, wenn es quasi unmöglich ist, im Falle falscher Unterstellungen betreffende Pressekanäle auf Schadensersatzzahlungen zu verklagen. Durch die Exzesse der #MeToo-Bewegung sind Hetzjagden auf prominente Männer zum Kassenschlager geworden. Was zählt da schon der Rufmord?
Der eklatante Mangel an Differenzierung und die mediale Gier nach Schuldzuweisung, die die Causa Lindemann prägen, erinnern an den Fall Aziz Ansari (Master of None), den Comedian und Schauspieler, den der Zorn der #MeToo-Bewegung auf ihrem Höhepunkt 2018 mit voller Breitseite erwischte. Eine Frau unter dem Pseudonym Grace bezichtigte Ansari damals, nicht intuitiv erahnt zu haben, dass sie keinen Sex mit ihm haben möchte, obwohl sie nach dem ersten Date mit ihm in seine Wohnung fuhr, ihn küsste und sie sich gegenseitig die Kleider auszogen. Nachdem Grace, die sich im Verlauf des Abends immer unwohler fühlte, Ansari mit einem „Nein“ bedeutete, dass sie keinen Sex haben wolle, ließ dieser sofort von ihr ab und sagte: „Wie wäre es, wenn wir einfach chillen, und zwar angezogen?“ Zu spät, laut Grace, er hätte zuvor „klare nicht-verbale Anzeichen ignoriert“. Die Geschichte explodierte in den Mainstreammedien und zwang Ansaris aufblühende Karriere zum Stillstand: Er wurde zu Hollywoods neuer Persona non grata deklariert und direkt mit Sexualstraftäter Weinstein in eine Schublade gesteckt.
Bari Weiss schrieb damals in einem großartigen Kommentar über den Fall Ansari: „[Der Fall] verwandelt eine Bewegung, die eigentlich für die Ermächtigung der Frauen sein sollte, in ein Symbol für die weibliche Hilflosigkeit.“1 In der Tat scheint weibliche Handlungsfähigkeit in diesen entweder aufgebauschten oder juristisch nicht haltbaren Fällen nicht zu existieren (wohlgemerkt rede ich hier nicht von tatsächlichen sexuellen Übergriffen!). Im Fall Ansari hatte Grace zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, zu gehen. Im Fall Lindemann hatte Shelby Lynn ebenfalls zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, das Konzert zu verlassen. In beiden Fällen stand eine sexuelle Interaktion situationsbedingt im Raum – beide Frauen wollten dies nicht und, soweit die Faktenlage, dies wurde in beiden Fällen von den Männern so respektiert. War Aziz Ansari in jener Nacht auf Sex mit seinem Date aus? Höchstwahrscheinlich ja. Ging Till Lindemann mit der Erwartung in die Konzertpause, Oralverkehr oder gar mehr mit Lynn zu haben? Höchstwahrscheinlich ja. Doch zu keinem Zeitpunkt wurde der freie Wille oder die Handlungsfähigkeit der Frauen eingeschränkt. Und solange diese Freiheit und Einvernehmlichkeit besteht, sind die mediale Diffamierung bzw. die juristische Anklage dieser Männer nicht zulässig, egal wie anstößig man deren Verhalten finden mag. Um an dieser Stelle nochmals Weiss zur Causa Ansari zu zitieren:
„Ich bin stolze Feministin und dachte mir beim Lesen dieses Artikels [über Graces Erfahrung mit Ansari] folgendes:
Wenn du mit einem nackten Mann herumhängst, ist es sehr wahrscheinlich, dass er versuchen wird, mit dir Sex zu haben. […]
Wenn du mit ihm nach Hause gehst und feststellst, dass er schlecht küsst, sag ‚Ich geh jetzt.‘“
Wenn du anfängst, mit ihm herumzumachen und es dir nicht gefällt, wie er riecht oder wie er redet (oder dass er nicht redet), dann lass es.
Wenn er dich dazu bedrängt, etwas zu tun, was du nicht tun willst, nutze ein bestimmtes Schimpfwort, steh auf und geh aus der Türe.“2
Das gleiche lässt sich für die Teilnehmerinnen der Row Zero sagen: Wenn es dir nicht gefällt, dass nur junge hübsche Frauen für die Rammstein-Konzertpartys rekrutiert werden, dann geh nicht hin. Wenn es dir suspekt ist, dass du backstage dein Handy abgeben musst, dann verschwinde. Wenn es dir nicht gefällt, dass auf diesen Partys harter Alkohol angeboten wird, dann sag tschüss und verlasse sie. Wenn du merkst, dass es bei diesen Partys womöglich auch um Sex geht und du das nicht gutheißt, dann dreh um und geh. Der bereits genannten YouTuberin Kayla Shyx beispielsweise war die Atmosphäre bei einem Berliner Rammstein-Konzert nicht geheuer. Sie verließ es deswegen.
Frauen, die sich im Dunstkreis eines berühmten Mannes aufhalten (und -werten) wollen, gibt es, seit es das Showbusiness gibt. Die Erwartung sexueller Interaktion besteht in diesem Zusammenhang immer, denn sie liegt in der Natur der Sache. Selbstverständlich muss jeder weibliche Fan selbst entscheiden dürfen, wie weit sie gehen will – doch gleichzeitig kann man beim besten Willen nicht mit Empörung reagieren, wenn man erfährt, dass bei der Konzertparty einer Rockband nur junge Frauen eingeladen werden, Schnaps angeboten und anschließend aufs Hotelzimmer eingeladen wird. Der #MeToo-Feminismus muss sich entscheiden, ob Groupies jetzt nun Vorreiterinnen der sexuellen Selbstbestimmung und Promiskuität sind, oder Opfer einer patriarchalischen, sexistischen Musikkultur. Beides gleichzeitig geht nicht. Denn Männer pauschal als sexuelle Aggressoren abzustempeln, bedeutet, Frauen pauschal zu hilflosen Opfern zu degradieren.
Doch diese Pauschalisierungen, die als Exzesse der #MeToo-Bewegung zu begreifen sind, sind pures Gift. Auf der Strecke bleibt zum einen das Prinzip der Unschuldsvermutung männlicher Verdächtiger, die den Schandfleck des Missbrauchsverdachts trotz mangelnder Beweislage oder gar juristischem Freispruch nie wieder losbekommen. Wie der deutsche Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach warnte: „Diejenigen, über die berichtet wird, sind verloren, selbst wenn keine Anklage erhoben wird.“
Zum zweiten wird die Idee der grundlegenden Handlungsfähigkeit von Frauen vollkommen ignoriert. Wer sich über den Mechanismus von Rammsteins Row Zero echauffiert, vergisst, dass diese Frauen aus eigenen Stücken dort hingehen. Solange sämtliches Verhalten legal ist – wie es laut Berliner Staatsanwaltschaft in Vilnius der Fall war –, ist eine Medienhetzjagd illegal.3 Es ist inkonsequent, Groupies einerseits als emanzipierte Partygirls oder Influencer zu feiern, dann aber deren Hilflosigkeit, Handlungsunfähigkeit und Ahnungslosigkeit zu betonen, wenn es der medialen Verdachtsberichterstattung nützlich ist.
Zum dritten und letzten leidet die Glaubwürdigkeit der wahren Opfer sexueller Gewalt, denn juristisch unhaltbare Vorwürfe wie jene Shelby Lynns gegen Lindemann oder entgleiste Anschuldigungen wie jene von Grace gegen Ansari fügen genau denjenigen Frauen Schaden zu, die wirklich Opfer von Gewalttaten sind. Ausgerechnet ihnen wird es dadurch erschwert, sich Gehör, Glaubhaftigkeit und Gerechtigkeit zu verschaffen.
Addendum: Auf diesem Substack gibt es eine hervorragend recherchierte und sehr sachlich aufgearbeitete Reportage zu Shelby Lynn und ihren Vorwürfen gegenüber Till Lindemann.
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Aktuelle Lektüre: “Upgrade” von Blake Crouch.
The English version of the article can be found here:
„It transforms what ought to be a movement for women’s empowerment into an emblem for female helplessness.“
„I am a proud feminist, and this is what I thought while reading the article:
If you are hanging out naked with a man, it’s safe to assume he is going to try to have sex with you. […]
If you go home with him and discover he’s a terrible kisser, say, ‘I’m out.’
If you start to hook up and don’t like the way he smells or the way he talks (or doesn’t talk), end it.
If he pressures you to do something you don’t want to do, use a four-letter word, stand up on your two legs and walk out his door.“
> Laut Lynn sei Lindemann daraufhin laut und wütend geworden, habe sie aber nicht angefasst. Es steht außer Frage, dass dies kein angemessenes Verhalten ist.
Ach? Also, ich stelle das mal hiermit in Frage. Weil wenn ich ein international bekannter Musiker wäre, der gerne Geschlechtsverkehr mit Groupies hat und dann auch noch extra irgendeine Alena einstellt, um da die hübschesten Willigen vorzusortieren, weil's da offensichtlich zu viele gibt und ich mir das leisten kann, wäre ich schon auch stinksauer, wenn die Alena mir eine Dingens bringt, die nur gratis saufen will. Da wird man selbstverständlich wütend, und teilt Alena gerne laut mit, dass sie den Job, für den sie bezahlt wird, nicht ordentlich macht und daher entlassen ist.
Da war zudem gerade ein Rammstein-Konzert, da ist jeder halb taub danach.