Die Demokratie ist tot. Lang lebe die Demokratie!
Trump-Unterstützer mit Kriegsbemalung und pensionierte Reichsbürger gefährden angeblich die demokratische Grundordnung. Die wahre Gefahr ist jedoch nicht das Volk, sondern die Staatsmacht.
Ein Kommentar zu „Tucker Carlson's Jan. 6 Video Tapes Release — Four Biggest Revelations“ (veröffentlicht auf Newsweek am 7. März 2023)
„Die Demokratie darf die Staatsmacht nicht einer Minderheit, sondern nur dem ganzen Volke anvertrauen. Die Gleichheit aller vor dem Gesetze bedingt, dass alle Mitbürger die gleichen Rechte genießen, dass kein Volksteil seine Sonderinteressen auf Kosten der übrigen Bürger durchzusetzen versucht.“ – Perikles (nach dem Geschichtsschreiber Thukydides)
Der große Staatsmann Perikles gilt als einer der wichtigsten Förderer der Demokratie im antiken Griechenland. Im Jahr 462 vor Christus organisierte er gemeinsam mit dem Reformer Ephialtes eine Wahl der Volksversammlung, die dazu führte, dass der bisher regierende Areopag (der attische Adelsrat) gestürzt wurde und dessen Befugnisse auf den Rat der 500 übertragen wurden. Die Mitglieder dieses Rates wurden durch ein jährliches Losverfahren bestimmt, das es prinzipiell jedem männlichen Bürger Athens über 30 (außer Sklaven und Einwanderern) ermöglichte, in den Rat aufgenommen zu werden – damals eine revolutionäre Idee. Viele Historiker sehen den Sturz des Areopags als die Geburtsstunde der attischen Demokratie, auch wenn man sicherlich darüber streiten kann, wie selbstlos Perikles bei der Durchsetzung dieser Wahl gehandelt hat. Immerhin wurde er nach Ephialtes‘ Ermordung selbst zum Anführer der Demokraten.
Wie dem auch sei, mit seiner Definition von Demokratie hatte Perikles zweifellos Recht: Die Staatsmacht darf keiner Minderheit gegeben werden, sie darf keinem Volksteil dazu dienen, seine individuellen Sonderinteressen durchzusetzen. Und doch müssen wir im Westen rund 2500 Jahre nach Perikles feststellen, dass genau dies der Fall ist. Wo Gesetze nicht mehr zum Wohl des Volkes gemacht werden, wo Grundrechte problemlos eingeschränkt werden können, wo sich die Regierenden schamlos selbst bedienen, ist die Demokratie dabei, wieder einer oligarchischen Form des Areopags zu weichen.
Das Narrativ der sterbenden Demokratie wird in den gängigen Medien meist mit rekurrierenden Namen und Tropen unterfüttert. Ganz vorne steht seit 2016 natürlich Donald Trump, die offizielle Ur-Gefahr für die Demokratie, der von Fareed Zakaria gleichsam als ein die Demokratie zerfressendes Krebsgeschwür beschrieben wurde. In Europa fallen in diesem Zusammenhang gerne Namen wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán oder die italienische Premierministerin Giorgia Meloni. Zur Zeiten der Corona-Pandemie galten die Impfgegner und Corona-Maßnahmengegner gemeinhin als Anti-Demokraten. Und schließlich ereignete sich in den USA am 6. Januar 2021 der in den Medien als „Angriff auf die Demokratie“ bezeichnete historische Moment, als ein Mob von aufgebrachten Trump-Unterstützern das US-Kapitol erstürmte.
Der so genannte „Sturm auf das Kapitol“ ging als eine der dunkelsten Stunden der modernen US-Demokratie in die Geschichtsannalen ein und die Demonstranten wurden sogleich als gewalttätige Demokratiefeinde gebrandmarkt. Der Guardian beschrieb die Ereignisse als eine „dreistündige Geschichte darüber, wie die amerikanische Demokratie im Gewittersturm politischer Gewalt wie ein wackeliges altes Haus knarzte und sich bog und darum rang, nicht auseinanderzufallen.“1 US-Präsident Joe Biden verkündete am ersten Jahrestag der Kapitolerstürmung, dass er den „Dolch am Halse der Demokratie“ nicht zulassen würde. Die Medien in den USA berichteten tage- und wochenlang in einer Dauerschleife über die Ereignisse. Bislang wurden über 1000 Personen in Zusammenhang mit dem 6. Januar verhaftet, die Gerichtsverhandlungen sind in vollem Gange.
Dann – über zwei Jahre nach der Kapitolerstürmung – veröffentlichte Tucker Carlson vom US-Nachrichtensender Fox News Anfang März 2023 einen mehrminütigen Zusammenschnitt von neuem Videomaterial aus den Überwachungskameras des Kapitols, zu dem der Öffentlichkeit der Zugang bislang verweigert worden war. Im Zuge der Midterm Elections 2022 war die Mehrheit des Repräsentantenhauses jedoch auf die republikanische Seite gewechselt, sodass dessen neuer Sprecher Kevin McCarthy es Fox News nun erlaubte, rund 40000 Stunden Videomaterial zu analysieren, das bislang zwei Jahre lang von den Demokraten unter Verschluss gehalten wurde. Die neuen Aufnahmen bringen das Narrativ des monumentalen „Angriffs auf die Demokratie“ vielleicht nicht unbedingt zum Einsturz, aber definitiv ins Wanken.
In der Tat zeichnen diese Aufnahmen eine ganz andere Version der Ereignisse vom 6. Januar 2021: Während man bislang nur Videoausschnitte von Randalen schreiender und wütender Trump-Unterstützer sah, so sieht man nun, dass es im Kapitol selbst anscheinend teilweise weitaus friedlicher zuging als bislang gedacht. Weder die Demonstranten noch die Polizisten scheinen Gewalt anzuwenden. Vielmehr ist die Passivität des Wachpersonals überaus erstaunlich. Noch erstaunlicher ist es, dass der berühmt-berüchtigte „QAnon Schamane“ aka Jacob Chansley, der mit seiner bizarren Gesichtsbemalung und seinem pelzigen Kopfschmuck weltweit Schlagzeilen machte, von der Polizei in aller Seelenruhe durch das Kapitol geführt wird. Weder die Wachmänner noch Chansley zeigen sich gewalttätig, und auch andere Kapitolerstürmer machen weniger den Eindruck von brutalen Aufständischen als vielmehr von „Touristen“, wie Tucker Carlson es ausdrückt. Chansley hatte sogar ausgiebig Zeit für Selfies.
Wer sich einfach nur mal das Videomaterial ansieht, der kommt nicht drum herum, dass hier ein paar Dinge überhaupt keinen Sinn machen. Wie kann es sein, dass eine Gruppe von hinterwäldlerischen Demonstranten so problemlos in das massiv abgesicherte Kapitol – wo die wichtigsten US-Politiker aus Senat und Repräsentantenhaus tagen – eindringen kann? Wieso macht das Wachpersonal keinerlei Anstalten, die Demonstranten aufzuhalten? Wieso in aller Welt werden manche Demonstranten sogar durch das Kapitol geleitet? Das neue Videomaterial stellt zudem Details rund um den Tod von Officer Brian Sicknick sowie der Funktion des angeblichen Agent Provocateur Ray Epps infrage. Natürlich ist der Zusammenschnitt von Fox News auch nur eine Auswahl aus tausenden Stunden von Videomaterial und somit zwangsläufig einer Selektionsverzerrung unterworfen. Doch das gleiche gilt für die bisherigen Videoaufnahmen von CNN, PBS und Co, die ausnahmslos Bilder von gewaltbereiten Gruppierungen zeigten. In jedem Fall muss dieses neue Material jeden halbwegs kritisch denkenden Bürger mit dem Gefühl zurücklassen, dass hier etwas gewaltig nicht stimmt.
Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Deutschland, ereignete sich knapp zwei Jahre nach der Kapitolerstürmung ein gleichermaßen grotesker „Angriff auf die Demokratie“, der geradezu wie ein billiger Abklatsch der Ereignisse in den Vereinigten Staaten wirkte. Die so genannte „Reichsbürger-Razzia“ vom 7. Dezember 2022 wurde als „größte Anti-Terror-Razzia der Bundesrepublik“ betitelt. Ein Großeinsatz von Spezialkräften stürmte Wohnungen und verhaftete Mitglieder der so genannten Reichsbürger, die laut Tagesschau angeklagt wurden, „eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, um die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und einen Staat nach Vorbild des Deutschen Reichs von 1871 zu errichten.“ Laut Süddeutscher Zeitung hingen Angehörige des Netzwerks auch „der QAnon-Bewegung“ und der „Querdenker-Szene“ an. Unter anderem hatten die Reichsbürger angeblich einen Angriff auf das Reichstagsgebäude (also quasi das deutsche Pendant zum US-Kapitol) geplant und zwar unter Führung des – Achtung! – 71-jährigen Heinrich XIII. Prinz Reuß aus adeligem Hause. Es dauerte nicht lange, bis auf Twitter der Ausdruck „Rentner-Umsturz“ die Runde machte und die Lächerlichkeit dieser angeblich brandgefährlichen Demokratiefeinde bloßstellte.
Doch die deutsche Politik und der Großteil der Medien beharrten darauf, dass die Reichsbürger „Feinde im Pelz der Demokratie“ seien, so etwa das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der direkte Vergleich zum Sturm auf das US-Kapitol wurde natürlich direkt gezogen: „Die Erstürmung des Parlaments ist nicht irgendeine Straftat. Sie erschüttert eine Demokratie in ihren Grundfesten, wie der Angriff auf das Kapitol in den USA gezeigt hat.“ Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach davon, dass die Demokratie durch die Reichsbürger „gefährdet“ sei, während die Öffentlich-Rechtlichen von einem „Putsch gegen die Demokratie“ sprachen. Und Justizminister Marco Buschmann (FDP) warnte vor der Verharmlosung der Reichsbürger und betonte deren Gefährlichkeit, was eine Kommentatorin der Welt bekräftigte. Es schienen sich alle einig, dass der Zusammenschluss von zwei Dutzend Rentnern mit ein paar Schusswaffen im Keller tatsächlich ausreichend sei, um das Parlament zu stürzen.
Dass auch bei dieser Reichsbürger-Razzia etwas nicht stimmte, wurde relativ schnell klar. Das Stern-Magazin beispielsweise hatte die Vorlage für den Online-Artikel zur Razzia schon am Tag vor dem eigentlichen Ereignis erstellt und Linken-Abgeordnete Martina Renner bestätigte später, dass die Razzia über eine Woche vor der Durchführung schon bei der Presse bekannt war. Die Regierung hatte der Presse vorab Informationen zukommen lassen, darunter sogar Zeitpunkt und Ort der Razzia. Und auch hier muss man sich fragen: Warum? Warum sollte das Innenministerium brisante Details zu einer potenziell gefährlichen Razzia vorab an die Medien durchsickern lassen und damit Gefahr laufen, die Ermittlungen und Beamten zu gefährden? Wieso wird eine Truppe von Rentnern, die sich ins Deutsche Reich von 1871 zurückwünschen, zu einer ernsthaften Demokratiegefahr deklariert und in den Medien als Terroristen in Szene gesetzt?
Auch wenn der Sturm auf das Kapitol weitaus bombastischer und dramatischer gewesen ist als die popelige Reichsbürger-Razzia in Deutschland, so besitzen beide Ereignisse doch erstaunliche Parallelen, die die aktuelle Demokratieauffassung des Westens demaskieren: In beiden Ländern gehen Politiker und Medienapparat davon aus, dass die Gefahr für die Demokratie vom Volke ausgeht. Demonstranten werden als Demokratiefeinde bezeichnet und Verrückte mit gehörntem Kopfschmuck sowie betagte Rentner werden zu hochgefährlichen Terroristen erklärt, die angeblich die demokratische Grundordnung zerstören werden. In Wahrheit jedoch sind es die Regierenden, nicht die Regierten, die die demokratischen Werte aushöhlen. Bestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist Chuck Schumer, Fraktionsführer der Demokraten im US-Senat, der Tucker Carlson vorwarf, er würde mit dem neuen Videomaterial die „amerikanische Demokratie verschmähen“. In keinem Moment geht Schumer auf den tatsächlichen Inhalt des Videomaterials ein oder darauf, dass seine eigene Partei die Veröffentlichung desselben blockiert hatte. Er baut seine Argumentation einzig und allein darauf auf, dass der 6. Januar gemeinhin als furchtbares Ereignis gilt und Carlsons Zweifel an dieser Tatsache schändlich seien.2 Die Ironie daran ist: Indem Schumer Carlson dafür anprangert, dass er der Öffentlichkeit neues Videomaterial zugänglich gemacht hat, auf dessen Einsicht es ein Recht hat, entlarvt er sich selbst als Demokratiefeind.
Ähnlich wie in den USA, wo Demokratiefeinde laut Medien ausschließlich aus dem rechten politischen Spektrum kommen, betonte auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), dass die „größte Bedrohung für die demokratische Grundordnung [von] rechts“ käme. Zwischen konservativ bzw. rechts sowie rechtsradikal, rechtspopulistisch und rechtsextrem wird seit einigen Jahren ohnehin nicht mehr unterschieden: Alles zur Rechten der Linken ist rechtsradikal. Nuancierte politische Debatten und Einordnungen vermisst man schmerzlich, denn um die Gefahren durch Linksextremismus oder migrantische Gewalt wird gerne ein Mantel des Schweigens gehüllt. Da greift man zur Not lieber auf eine randständige Gruppierung wie die Reichsbürger unter Führung eines pensionierten Adeligen zurück, um der Bevölkerung die Bedrohung durch den Rechtsextremismus in Erinnerung zu rufen. Anscheinend ließen sich nirgendwo mehr tatsächliche Neo-Nazis finden, um diese medial zu inszenieren.
Egal ob Gewalt von rechts oder Gewalt von links, jegliche Gewalt ist verurteilenswert. Ein Regierungsgebäude zu stürmen oder einen Staatscoup zu planen ist nichts, was man als Demokratiefreund unterstützt. Doch das mediale Framing, das Hand in Hand mit der Politik arbeitet, hat mittlerweile einen Punkt erreicht, an dem von neutraler und ausgewogener Berichterstattung keine Rede mehr sein kann und die Presse in ihrer Funktion als vierte Säule der Demokratie kläglich versagt. Pro-Trump-Demonstranten in den USA oder eine Rentnercombo mit Träumen vom Deutschen Reich sind nicht die wahren Feinde der Demokratie. Die Gefahr der Demokratie geht heutzutage nicht vom Volk aus, sondern von der Staatsmacht. Der autoritäre Umgang mit der Corona-Pandemie, der Ukraine-Russland-Krieg, der globale Informationskrieg, die Korruption in sämtlichen Parteien des politischen Spektrums – all das hat verdeutlicht, dass die westliche Demokratie im Sterben liegt und zwar nicht wegen eines QAnon-Anhängers mit Pelzkopfschmuck, sondern wegen einer politischen Elite, die nicht zum Wohle des Volkes handelt, sondern offen für die Einschränkung demokratischer Grundrechte plädiert und diese durchsetzt. Es ist diese politische Elite, nur sich selbst und ihrem eigenen Vorteil gesinnt, die den modernen oligarchischen Areopag des 21. Jahrhunderts bildet.
Mit dem medialen Aufbauschen angeblich demokratiezerstörender Ereignisse wie dem Angriff auf das Kapitol bzw. dem geplanten Reichsbürger-Coup wird davon abgelenkt, dass eben diese politische Elite „der Forderung der Demokratie nach Freiheit für ihre Subjekte müde geworden ist,“ so Jacob Siegel in einer herausragenden Reportage für TabletMag. „Die herrschende Klasse stellt sicher, dass sie immer auf eine drohende Gefahr durch Extremisten zeigen kann – eine Gefahr, die es rechtfertigt, mit eisernem Griff an ihrer eigenen Macht festzuhalten.“3 Doch wir, die „Subjekte“, der Demos, sollten uns immer dessen bewusst sein, dass die Macht vom Volke ausgeht, ja ausgehen muss in einer funktionierenden Demokratie. Die Volksmacht kann nur gebrochen werden durch Spaltung, durch Lüge und durch Mutlosigkeit der Bevölkerung. Im Umkehrschluss heißt das, dass wir das Gegenteil anstreben müssen: Gemeinschaft, Wahrheit und Mut. Schon Perikles sagte zu seiner Zeit: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.“
Über die Autorin: Jahrgang 1987, mit Wurzeln in Deutschland und den Philippinen, in Spanien ansässig. Konstante Neugier und Wissbegierde. Freiheit > Sicherheit. Sich selbst eine Meinung bilden > Gruppendenken. Kaffee > Tee. Podcast-Empfehlung: Joe Rogan Podcast Episode #1940 mit Matt Taibbi
„But what followed was a three-hour story about how American democracy, like a rickety old house, creaked and bent and struggled to hold itself together during a thunderstorm of political violence.“ (David Smith, „January 6 testimony tells chilling tale of democracy hanging by a thread“)
Ein klassisches ad hominem Argument.
„To a ruling class that had already grown tired of democracy’s demand that freedom be granted to its subjects, disinformation provided a regulatory framework to replace the U.S. Constitution. By aiming at the impossible, the elimination of all error and deviation from party orthodoxy, the ruling class ensures that it will always be able to point to a looming threat from extremists—a threat that justifies its own iron grip on power.“ (Jacob Siegel, „A Guide to Understanding the Hoax of the Century: Thirteen Ways of Looking at Disinformation“)